16.09.2024

Delir – der unerwartete Feind

Eine akute Aufmerksamkeitsstörung, nicht zu verwechseln mit Demenz


von Dr. med. Jana Karin Köbcke
Chefärztin der Geriatrie und Rehabilitation
Bonifatius Hospital Lingen

Herr S. ist 84 Jahre alt und muss nach einem Sturz wegen einer Schenkelhalsfraktur im Krankenhaus operiert werden. Der ältere Herr lebt ansonsten in seinem Haus allein, geht noch mit seinem Rollator in Begleitung des Sohnes einkaufen. Seine Familie beschreibt ihn als zuvorkommenden und netten Herren, der sich an seinem Garten erfreut. Während des Krankenhausaufenthaltes verändert sich Herr S. Trotz frischer Operation versucht er immer wieder in der Nacht aufzustehen mit hohem Sturzrisiko. Er zieht sich die erforderlichen Zugänge für Infusionen und zeigt ein lautes herausforderndes, ja aggressives Verhalten dem Krankenhauspersonal und auch Angehörigen gegenüber. Herr S. schläft in der Nacht kaum, ist unruhig und verwechselt die Vergangenheit mit der Gegenwart. Alle machen sich Sorgen, glauben an eine Demenz.

Frau M. ist eine 78jährige Patientin, welche aufgrund einer schweren Lungenentzündung im Krankenhaus behandelt werden muss. Sie lebt mit ihrem Ehemann zu Hause und liebt es, für die Enkelkinder zu backen. Trotz guter Besserung der Infektwerte unter der Therapie mit Antibiotika wird auch sie anders, erkennt in manchen Stunden ihren Mann nicht mehr. Sie isst kaum etwas, schläft fast nur, verbleibt im Bett, das Sprechen wird immer weniger.

Beide Patienten leiden unter einem Delir, Herr S. an der hyperaktiven, Frau M. an der hypoaktiven Form dieser Erkrankung. Das Delir ist kein seltenes Krankheitsbild und tritt heute öfters auf als früher. Der Grund ist, dass Menschen älter werden und sie sich intensiveren Behandlungen unterziehen. Zusätzlich ist zu vermuten, dass die Diagnose Delir heute besser bekannt ist und somit häufiger gestellt wird als früher.

Prinzipiell kann die akute Verwirrtheit in jedem Lebensalter auftreten. Am häufigsten kommt das Delir jedoch bei älteren Menschen vor. Vorbestehende Hirnleistungsstörungen zählen wie das Alter zu den Hauptrisikofaktoren. Etwa 15 – 50 % aller älteren Patienten können diese Komplikation erleiden. Das Delir entsteht im Gegensatz zur Demenz akut. Es ist eine durch die Erkrankung bedingte psychische Störung. Solche Auslöser können Infektionen, Traumata, Flüssigkeitsmangel, Elektrolytveränderungen, z.B. bei Durchfall, Sauerstoffmangel bei Herz- oder Lungenerkrankungen, Blutarmut, Entgleisungen des Blutdruckes, Schilddrüsenerkrankungen oder Medikamententherapien mit Schmerzmitteln oder anderen im Gehirn wirkenden Medikamenten sein. Das Spektrum der möglichen Verursacher ist also sehr groß. Beim Delir kommt es vor allem zu einer akuten Aufmerksamkeitsstörung. Das Gehirn der betroffenen Patienten kann in dieser Situation nicht mehr alle Informationen gut verarbeiten. Stellen Sie sich vor, Sie wachen krank auf einen großen unbekannten Flughafen auf, wo viele Menschen hin und her eilen, alle eine andere Sprache sprechen und Sie niemanden verstehen. Ständig werden Sie angesprochen. Ihre Brille und/oder Hörgeräte sind im Koffer geblieben, alles wird unscharf wahrgenommen. Man schubst und zerrt an Ihnen. Sie sind heillos mit der Situation überfordert und gleichzeitig noch akut erkrankt. So wirken oft Patienten mit einem Delir und finden manchmal nur schwer den Ausgang daraus. Zu der Aufmerksamkeitsstörung kommen Störungen des Tag-Nacht-Rhythmus, des Bewusstseins, der Orientierung, des Denkens und Gedächtnisses und Halluzinationen. Einige Patienten zeigen ein unruhiges Verhalten, sinnlose, stereotype Bewegungen, Beschäftigungsdrang und Herumnesteln. Und oft sind dann Infusionsschläuche oder Urinkatheter einfach im Weg und werden unbewusst, aber mit Gefahren, entfernt. Andere Patienten ziehen sich immer mehr zurück, schlafen fast nur. Diese Form des Delirs ist sogar noch gefährlicher, da oft übersehen, aber mit einer schlechten Prognose verknüpft.

Das Delir ist eine lebensbedrohliche Komplikationen und muss schnellstmöglich erkannt und behandelt werden. Uns stehen verschiedene Tests zur Diagnostik zur Verfügung. Die wichtigsten Diagnostik ist aber immer noch die akut einsetzende Veränderung im Verhalten dieser Patienten. In der Therapie steht die Beseitigung der auslösenden Erkrankung an erster Stelle. Darüber hinaus können Medikamente helfen, Erregungs- und Unruhezustände zu dämpfen und den Tag-Nacht-Rhythmus wiederherzustellen. Unser Gehirn braucht diese zirkadiane Rhythmik, da die Ausschüttung von Botenstoffen der Nervenzellen daran gekoppelt ist. Und auch wenn wir Mediziner am liebsten die Pille gegen ein Delir hätten, wir haben sie (noch) nicht. Die besten, in Studien überprüften Therapien für ein Delir sind daher nicht-medikamentöse Maßnahmen. Wichtig ist es, Orientierung zu schaffen, z.B. durch Uhren, Kalender und in Gesprächen. Vertraute Gegenstände oder Menschen dienen als Bezugsanker zur Realität. Tagesrhythmik durch Beschäftigung am Tag, Mobilisation aus dem Bett und Bewegungstraining sind weitere wichtige Maßnahmen. Wir alle lernen von klein an, das Essen dreimal am Tag am Tisch einzunehmen, sich tagsüber zu beschäftigen und abends zum Schlafen ins Bett zu gehen. Das kennt unser Gehirn also sehr gut und unterstützt seine Strukturierung. Deeskalierende Maßnahmen bei herausforderndem Verhalten sind weiterhin wirksam und helfen besser als Diskussionen. Das Rooming-In von Angehörigen als vertraute Personen ist darüber hinaus sehr hilfreich für die Patienten mit Delirien, lindert Ängste und Sorgen und wird in vielen Krankenhäusern bereits unterstützt.

In der Geriatrie sehen wir das Delir als Komplikation sehr oft, da unsere Patienten zur Risikogruppe gehören. Was für uns nicht immer unerwartet auftritt, ist für die betroffenen Familien kaum zu verstehen und zu ertragen. Trotz aller genannten Maßnahmen kann ein Delir zwischen wenigen Tagen bis mehreren Wochen anhalten. Es weist eine hohe Sterblichkeitsrate auf, Veränderungen der Hirnleistung mit Verlusten von Selbstständigkeiten können verbleiben. Daher ist es wichtig, Risikopatienten für die Entwicklung eines Delirs frühzeitig im Krankenhaus zu erkennen und präventive Maßnahmen zur Orientierung und Tagesrhythmik, aber auch im Flüssigkeits-, Ernährungs- und Medikamentenmanagement einzuleiten. Mittels Screeningtests können wir Hochrisikopatienten erkennen. Speziell ausgebildete Kognitionsteams begleiten Risikopatienten im gesamten Krankenhaus vom erstem Tag an, begleiten sie z.B. in den OP und betreuen sie zusammen mit dem medizinischen Personal der Stationen während des Krankenhausaufenthalts. Beschäftigungsangebote, wie Biographiearbeit, Spiel- und Musiktherapie bis hin zur Einzelbetreuung oder beruhigenden Zusammensein in geschützten Örtlichkeiten, wie z.B. unserem Wohnzimmer oder dem Abend-Café sind weitere präventive und therapeutische Angebote durch speziell ausgebildete Fachkräfte.

Das Delir ist kein Durchgangssyndrom, wie es früher oft bezeichnet wurde. Es ist eine sehr ernste Komplikation mit möglichen schwerwiegenden Folgen und bedarf daher einer schnellen Erkennung und Behandlung. Je schneller die Symptome des Delirs kontrolliert werden können, umso besser ist die Prognose für die betroffenen Patienten. Die Behandlung bedarf dabei einer engen Zusammenarbeit der medizinischen Berufsgruppen und der Angehörigen zum Wohle der Patienten.

Zertifiziert

pCC-zertifiziert nach DIN EN ISO 9001:2015 und MAAS-BGW für ISO




Die Umsetzung von Digitalisierungsprojekten erfolgt mit
Förderungen aus dem KHZG (Krankenhauszukunftsgesetz).

Kontakt

Bonifatius Hospital Lingen gGmbH
Wilhelmstraße 13
49808 Lingen (Ems)

Telefon:
0591 910-0

E-Mail:
info@hospital-lingen.de

Impressum | Datenschutz

Medizinproduktesicherheit:
Sie erreichen unseren Beauftragten für Medizinproduktesicherheit (gem. §6 der MPBetreibV) unter folgender E-Mail-Adresse: medizinproduktesicherheit@hospital-lingen.de

Copyright (c) 2015. Bonifatius Hospital Lingen. Alle Rechte vorbehalten.